Montag, 16. August 2021

Schiele

                                                                                                 magyar

 Aus einem alten Spiralnotizbuch

                                                                               30. September 2013

     Bei jedem Wien-Besuch sind wir fast immer auf Schiele "gestoßen", obwohl wir uns in erster Linie von Klimt, dem harmonischeren Jugendstil, angezogen fühlten und nicht von Schieles wildem Expressionismus. Nun kam er nach Budapest: mit seinen Zeitgenossen Kokoschka, Gerstl. Man konnte ihm nicht ausweichen. Klimt war ihm natürlich voraus (2010).

     Kürzlich wurde unter dem Titel Art History Quick Guide (nyest.hu) eine unterhaltsame kleine Zusammenfassung darüber veröffentlicht, wie man die Gemälde der großen Künstler erkennt. Ein Beispiel: Wenn das Bild aus farbigen Punkten besteht und keine Menschen darauf zu sehen sind, handelt es sich um Monet. Wenn das Bild aus farbigen Punkten besteht und fröhlich feiernde Menschen zeigt, ist es Renoir usw. Ich habe mich gefragt, ob ich das Wesen von Schieles Gemälden in einem Satz zusammenfassen kann. Unheimliche Selbstporträts, gespaltene Porträts, ärmliche Akte, Erotik, ein schauriges Mutter-Kind-Motiv, Städte und Landschaften, die wie tot aussehen. In den 29 Jahren seines Lebens entstanden fast 3.000 Gemälde. (Nur 50 von ihnen sind hier ausgestellt.)

                                                                     Familie, 1918

    Ady, der ungarische Dichter, fasste die Entwicklungen zu Beginn des letzten Jahrhunderts, einschließlich des Weltkriegs, so zusammen: "Alles ist zerbrochen"

     Und doch können wir uns an der Sicherheit und der handwerklichen Meisterschaft erfreuen, mit der Schiele seine Figuren, Stadtansichten und Naturszenen gestaltet.

                                              Auf dem Bauch liegender, weiblicher Akt, 1917

    Er hat nicht nur mit Farben und Linien, sondern auch mit Worten ausgezeichnet umgegangen:

          Koste Röte, rieche wiegende weiße Winde,
          Schaue an im All: Sonne.
          Gelbglitzernde Sterne schaue,
          bis dir wohl ist und du schließen mußt die Blinzenden.
          Hirnwelten funkeln dir in deinen Höhlen.
          Laß zittern dir die innigen Finger,
          taste am Elemente, der du durstig taumelnd dir suchen mußt,
          der spingend sitzt, laufend du liegst, liegend träumst, träumend wachst.
          Fieger fressen Hunger und Durs und Unlust,
          Blut fügt sich durch.

          Vater, der du doch da bist, schaue mich an.
          Umwickle mich,
          gib mir:
          Nahe Welt laufe ab und auf rasend.
          Strecke jetzt deine edlen Knochen,
          reiche mir weiches Ohr,
          schöne blaß-blaue Augen.
          Das, Vater, war da -
          vor dir bin ich!
                                          (
Sonne, 1910, erschien in der Aktion)

                                           Selbstbildnis mit Händen vor der Brust, 1910

Nachtrag

     Pilinszky, ebenfalls Dichter,  sagte in seinem Interview (1978): "... wir dachten, Thomas Mann würde über das Zeitalter sprechen, es stellte sich heraus, dass es Kafka war." Ich würde es so ausdrücken: Wir dachten, Klimt würde authentisch über die Epoche sprechen, aber vielleicht Schiele?



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen