Freitag, 27. Mai 2022

Turm zu Babel in Wien

                                                                                                             Magyarul

                                                                              KHM

                                               "Unser hart arbeitendes Volk wird gewinnen!"

                                                                              (Die Unreifen)   

     Wenn wir die Bibel lesen, können wir aus der Geschichte der Menschheit schließen, dass der Mensch ein sündiges, rebellisches Wesen ist. Es fällt ihm schwer, die Gebote zu befolgen. Schon das erste Menschenpaar sündigte, dann tötete Kain seinen Bruder, eine moralisch verdorbene Generation wurde durch eine Flut vernichtet, und es folgten Sodom und Gomorrah. Dazwischen liegt der Turmbau zu Babel, durch den die Menschen zerstreut wurden und sich seitdem nicht mehr verstehen, weil sie verschiedene Sprachen sprechen. Die Liste ließe sich fortsetzen, aber bleiben wir beim Turmbau zu Babel stehen.

     Die große Bruegel-Ausstellung im Kunsthistorischen Museum in Wien wurde im Januar 2019 geschlossen. Mehr als 400.000 Besucher sahen die fast 40 Gemälde und 60 Drucke. Obwohl Wien wegen der 12 Gemälde von Bruegel, nicht zuletzt wegen des Turms von Babel, immer einen Besuch wert ist, wurden dieses Mal die „Türme“ aus Wien und Rotterdam nebeneinander gezeigt.

 

 


 

     Warum ist die Kunst von Bruegel so interessant und attraktiv? Zweifellos wegen seines unerbittlichen Realismus, aber vor allem wegen seiner einzigartigen Vision, die selbst im Vergleich zu den großen Künstlern der Renaissance erstaunlich kühn war: Der Mensch ist nicht mehr das Zentrum des Universums, wie es bei Michelangelo oder Leonardo der Fall war. Schauplätze sind vor allem die Niederlande, die Zeit ist das 16. Jahrhundert, auch wenn sich der Maler von religiösen und mythologischen Themen inspirieren lässt. Die Spannung ist in den Gemälden spürbar. Bald marschiert Fürst Alba in die Provinz ein und lässt Protestanten hinrichten. Und wenn wir die Kinderspiele und den Kindermord von Bethlehem gedanklich nebeneinander stellen, wird deutlich, wie leicht die scheinbare Idylle in ein Gemetzel umschlagen kann.

     In der biblischen Geschichte des Turmbaus fehlt die Figur des Nimrod, des Herrschers der Stadt, von dem Josephus Flavius schreibt, dass er den Bau des Turms angeordnet hat. Er wurde auch von Dante in seinem Inferno als grobe Figur erwähnt. Virgil sagte: "Wegen seines bösen Plans / Hat die Welt keine gemeinsame Sprache". (31:77-78) Sogar im Fegefeuer wird sein Ehrgeiz erwähnt. (12:34-36) (1) Die Gestalt von Nimrod war populär. Sebastian Brant, der als der deutsche Dante gefeiert wurde, spricht im Narrenschiff über ihn. (1494) (1)

     Nicht weit vom Turm entfernt, auf einer kleinen Anhöhe, so dass man ihn gut erkennen kann, nähert sich der König mit seinem Gefolge, die Krone auf dem Kopf, das Zepter in der Hand. Die Maurer knien vor ihm nieder (das ist die einzige orientalische Besonderheit). Die Baumeister, die Arbeiter, können sich den Befehlen des Königs nicht widersetzen, sie arbeiten mit aller Kraft, unaufhörlich. Sie sind alle an einem Ort, sie sprechen eine Sprache, sie befolgen alle die Befehle des Herrschers. Es ist erschreckend. Wie viele Menschen rennen in dem gigantischen Bauwerk auf und ab, das hier und da schon bröckelt, sich in den Himmel streckt und zu einem undurchdringlichen Labyrinth wird? Obwohl der Turm auf einen Felsen gebaut war, sagte, Dante  er sei zum Einsturz verurteilt. Die Strafe ist noch nicht gekommen, das göttliche Wort ist noch nicht gesprochen, aber wir können schon auf dem Bild sehen, dass der monströse Plan zum Scheitern verurteilt ist: Das Unternehmen bricht von selbst zusammen. Das Eingreifen Gottes ist fast überflüssig.

Wie Rose-Marie und Reiner Hagen schreiben, hat kein anderer Maler die gigantischen Dimensionen des Turms je so wirkungsvoll dargestellt. Wie er einen Schatten auf die Küste wirft! Der Turm ist umgeben von der stillen Stadt, dem Fluss und dem Meer. Hoch oben ziehen die Wolken am blauen Himmel auf. Obwohl es sich um ein biblisches Thema handelt, stellt Bruegel das Gebäude als ein zeitgenössisches Unternehmen voller realistischer Details dar. Jedes Detail ist wahr. Jedes einzelne ist Teil des malerischen Konzepts, eine Struktur ohne Zentrum.

 

 


 

     Das etwas spätere Rotterdamer Bild ist viel kleiner, aber im Verhältnis ist dieser Turm immer noch der größere. Und durch das Fehlen der Nimrod-Szene vermitteln die Düsternis und die Monumentalität des Turms ein stärkeres Gefühl von Arroganz und Sinnlosigkeit. Der Mensch ist noch kleiner und unbedeutender. Die rote Farbe und die Wolken suggerieren Bedrohung, auch wenn dort oben fieberhaft gearbeitet wird. Jedes Bild ist auf seine eigene Weise brillant.

     Das Motiv hat also die Jahrhunderte überdauert und ist in die ungarische Literatur eingeflossen. Was bei Vörösmarty positiv war, nämlich dass wir beim Bau des Babel eines neuen Zeitalters durch die "Tür des Himmels" (2) blicken könnten, wurde bei Ady zum Symbol des Unverständnisses:

                 "Wird das Babel aller Sklaven
                   Doch erwachen, wird es Tag?" (3)
                                             (Ungarisches Jakobinerlied, 1908)

              

(1) Nimrod wird von Kézai (Chronist des 13. Jahrhunderts) als Vorfahre der Ungarn angesehen. János Arany:

           "Hunor Magor zwei Helden,
             Zwei Brüder, Söhne von Menroth."
                           (Ein Gedicht über das wundersame Reh)

(2) Gedanken in der Bibliothek, 1844

(3) Von Heinz Kahlau


Donnerstag, 13. Januar 2022

Margareta

                                                                                                                     magyarul

                                               Ary Scheffer: Faust un Margarete im Garten

Margareta
Ihr heiligen Engel, bewahret meine Seele! – Mir graut’s vor dir, Heinrich!

Mephistopheles
Sie ist gerichtet! (Er verschwindet mit Faust, die Tür rasselt zu; man hört verhallend:)

Heinrich! Heinrich!
                        
(Ur-Faust)

      Obwohl es am 14. Januar noch dunkel war, wartete die Frankfurter Bevölkerung gespannt auf die Hinrichtung. Zwölf Soldaten standen bereits um 5 Uhr vor dem Gefängnis bereit. Um 6 Uhr fuhr die Kutsche des Militärrichters Oberst Raab zum Katharina-Turm, wo die Kindermörderin Susanne Margarethe Brandt festgehalten wurde.

     Wir schreiben das Jahr 1772, und verzeihen Sie mir, wenn ich nicht gleich zur Sache komme. Ich möchte den Leser neugierig machen (falls es einen gibt), warum es wichtig ist, was dort vor knapp 250 Jahren auf dem Platz der Hauptwache geschah.

     Wenn Sie sich nicht erinnern, füge ich als Hilfe hinzu, dass man den Katharina-Turm, nur 200 Meter entfernt vom Fenster des Mansardenzimmers aus sehen kann. Sein junger Bewohner, ein 22-jähriger Jurastudent, der gerade aus Straßburg zurückgekehrt war, war kein Geringerer als Johann Wolfgang Goethe. Verstehen Sie langsam den Zusammenhang? Ja, Gretchen wird auf dem Schafott sterben, um später in einem der bedeutendsten Werke der Weltliteratur, Faust, wieder aufzuerstehen.

     Zuletzt hat Uwe Wittstock in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sehr wirkungsvoll darüber geschrieben. Natürlich haben sich auch die realen Personen hervorgetan: „Als Richter Raab gegen halb sieben (…) in die Zelle der Deliquentin tritt, steht er ganz in Schwarz vor ihr, trägt Stiefel mit Sporen und darüber einen roten Mantel mit dem silbernen Stadtwappen auf goldenen Grund. Auch Susanna Margaretha Brandt ist feierlich gekleidet. Man hat eine weiße Jacke für sie nähen lassen, einen weißen Rock, weiße Handschuhe, eine weiße Haube und für ihren Hals ein weißes Tuch. Bessere Kleider hat sie nie getragen. In ihre Hände hat man ihr ein weißes Taschentuch gelegt und dazu eine große Zitrone als ein Symbol für die Überwindung des Sündenfalls.“ Nachdem Raab das Urteil verlesen hatte, das seiner Meinung nach wohlverdient war, zieht er unter seinem Mantel "einen kleinen roten Stock hervor, zerbricht ihn über der jungen Frau und wirf ihn Susanne Margaretha vor die Füße. Entsetz beginnt Susanne Margarethe Brandt am ganzen Körper zu zittern. Es ist der Henker, der auf sie zugeht, ihre nimmt Hand und in aller Stille zur Beruhigung ein paar Worte zu ihr sagt."

     Obwohl die Tat der jungen Frau schrecklich war, hat man das Gefühl, dass alles nur ein Schaupiel war. Die Stadt Frankfurt hatte es für ihre angesehenen Bürger arrangiert: Schaut, wie moralisch wir sind, wie wir die Sünde verurteilen. Aber es waren Heuchelei und Angst vor Stigmatisierung, die die Tragödie verursachten. Die 24-jährige Magd, die in der Küche eines Gasthauses am Stadtrand wohnte, und von einem Fremden vergewaltigt wurde, war völlig schutzlos. Selbst ihre Familie hatte sie im Stich gelassen.

     Susanne bezeugte, die Aufzeichnungen beweisen es, dass er vom Teufel geführt wurde.  Auch Goethe studierte die Protokolle, machte sich sorgfältige Notizen und begann mit der Arbeit am sogenannten "Ur-Faust", der bereits "poetische Kraft und dramatisches Gespür" besaß. (László Márton, in: Faust, 2015)

     Das Zeichen der Zeit ist in der Endfassung des ersten Teils von Faust (Erstausgabe: 1808) zu sehen: wenn die irdische Gerechtigkeit ins Wanken gerät, versagt, möchte man auf eine höhere Macht vertrauen, die die Dinge in Ordnung bringt:

Margarete:
Dein bin ich, Vater! Rette mich!
Ihr Engel! Ihr heiligen Scharen,
Lagert euch umher, mich zu bewahren!
Heinrich! Mir graut's vor dir.

Mephistopheles:
Sie ist gerichtet!

Stimme (von oben):
 Ist gerettet!

Mephistopheles (zu Faust):
 Her zu mir!

(Verschwindet mit Faust.)

Stimme (von innen, verhallend):
Heinrich! Heinrich!