Dienstag, 18. Mai 2021

Theseus in Maske

magyar

2020

      Wenn man die Wiener Ringstraße entlang spaziert, ist es immer ein herzerwärmender Moment, wenn das Kunsthistorische Museum im Stil der Neorenaissance und sein Schwestermuseum, das Naturhistorische Museum, auftauchen.

 


                                                                            KHM 

     2020 war das auch nicht anders. Ich bin wohl einer der wenigen Menschen, die die Chance hatten, Wien ein paar Tage lang zu erkunden: den Musikverein von innen, Heiligenstadt mit dem Beethoven-Gedenkhaus und natürlich das unerschöpfliche Kunsthistorische Museum. Wie ein Fürst schreitet man die Treppe hinauf und steht ehrfürchtig vor der Statue von Canova: Theseus besiegt den Zentauren. Der Legende nach wurden die Zentauren bei der Hochzeit von Peirithoos und Deidameia so betrunken, dass sie die Braut und die anderen Frauen angriffen. Dies führte zu einem regelrechten Krieg, an dem Theseus beteiligt war.

 


                                                                   Theseus in einer Maske 

     Niemand hat die triumphale Anspannung der Kraft und das gequälte Nachgeben des Unwürdigen schöner dargestellt als Canova. Das Entwaffnende an klassischen Werken ist, dass wir uns keine andere Möglichkeit vorstellen können. Theseus besiegt immer den Zentauren. 

* 

     Im Jahr 1864 wurde beschlossen, dass die beiden Museen von den Habsburgern auf der anderen Seite des Boulevards gebaut werden sollten. Es wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, zu dem Carl Hasenauer, Theophil Hansen, Heinrich Ferstel und Moritz Löhr eingeladen wurden. Gottfried Semper wurde als Preisrichter eingeladen und er entwarf zunächst einen großen Plan, das Kaiserforum. 

 


                                                        Grundriss des Kaiserforums, wikipedia 

     Daraus wurden die beiden Museen und die sogenannte Neue Burg (1913) fertiggestellt. Aber vielleicht ist das auch gut so: Der Platz blieb offen für den Volksgarten (Sisi-Statue), das Burgtheater und das Rathaus. Semper war es auch, der sich für die Umsetzung von Hasenauers Plan entschied. Dem Naturhistorischen Museum (1889) folgte bald die Eröffnung einer Sammlung von Kunstschätzen. Natürlich konnte eine so reiche Sammlung nur über viele Jahrhunderte aufgebaut werden, und in diesem Teil Europas konnten nur Könige, Kaiser und Erzherzöge Mäzene sein.

     Erzherzog Ferdinand II. (1520-1595) war der Gründer, gefolgt von Rudolf II. (1576-1612), der vom Sammeln von Gemälden besessen war. Seine Figur ist vielleicht aus dem Akt 8 (Prag) der "Tragödie des Menschen" (Imre Madách, 1861) bekannt. Er war verantwortlich für die Bruegel-Sammlung, Dürers Werke und einige Werke des Manierismus (Arcimboldo). Am Ende des Dreißigjährigen Krieges (1648) übernahmen die Schweden jedoch viele seiner Gemälde "zur Verwahrung". Sie bewahren noch auf, was übrig geblieben ist, wie z.B. Arcimboldos Porträt von Rudolph, aber mehrere wurden bei einem Schlossbrand zerstört oder an einen anderen Ort gebracht. Königin Christina schenkte Dürers "Adam und Eva" an Philipp IV. von Spanien. Es befindet sich jetzt im Prado. Nil admirari! Kein Wunder! Die Museen Europas sind voll von solchen "geretteten" Schätzen.

     Erzherzog Wilhelm Leopold (1614-1662) war mit rund 1400 Gemälden vertreten.

 


                                                  Unter den Bildern von Wilhelm Leopold, KHM    

     Die Sammlung wurde 1781, während der Regierungszeit Josephs II., von der Stallburg ins Belvedere verlegt und war dann der Öffentlichkeit zugänglich. Die kaiserliche Sammlung wurde schließlich 1891 in das neue Gebäude verlegt. 

* 

     Es sind noch einige Dürer-Gemälde vorhanden. Acht an der Zahl. Vielleicht das schönste von ihnen: Maria mit Kind. 


                                                                 Maria mit dem Kind, KHM 

     Wenn wir dieses Gemälde betrachten, können wir die Essenz der Renaissancekunst sehen: die Schönheit des Menschen auf der Leinwand. Auch Dichter singen diese Harmonie mit Ehrfurcht. (Petrarca, Balassi) Aber in Dürers Bild ist auch ein verborgener Schmerz: warum muss sie das Kind verlieren. 

* 

     Wie wird das Jahr 2021 aussehen? Wird Theseus seine Maske abnehmen?

Sonntag, 16. Mai 2021

Dürer: Die vier Apostel

                                                                                                                     magyar

                                                                                                     (Advent, 2013)

     Ich wollte schon lange einmal die Alte Pinakothek in München besuchen. Ich konnte kaum glauben - wir hatten so wenig Zeit - dass ich es geschafft hatte. Lange stand ich vor einigen Gemälden und wurde dann wieder in das adventliche Gedränge hineingezogen.

     Für mich sind die Porträts die herausragendsten Werke von Dürer (1471-1528). Dass auch seine Zeichnungen, Aquarelle und Stiche Meisterwerke sind, versteht sich von selbst. Als die Albertina (in Wien) 2003 seine Sammlungsausstellung hatte, haben wir lange gewartet, bis wir an der Reihe waren, den berühmten Hasen näher zu betrachten. Aber seine Selbstporträts, die Porträts seiner Mutter, seines Vaters, von Wolgemut, Holzschuher, Muffel sind alle hervorragend und zeugen von einer tiefen Menschenkenntnis des Künstlers!

     Zwei Jahre vor seinem Tod (1526) begann er sein monumentales Werk, Die vier Apostel. Die beiden Tafeln mit zwei überlebensgroßen Figuren der Apostel könnten die beiden Seitenwände eines Flügelaltars gewesen sein. Dieser Plan, wenn es denn einen gab, wurde nicht realisiert. Sein Testament, eine Warnung an seine Zeit, übergab er der Stadt Nürnberg.

Wer ist auf dem Bild zu sehen? Schauen wir uns das mal an! Johannes, Petrus, Markus und Paulus, von links nach rechts. Aber Markus war kein Apostel. Mit einer Papyrusrolle in der Hand fragt er sich vielleicht: Habe ich die Wahrheit geschrieben?


                                                             Dürer: Die vier Apostel

    Die Arbeit kann nicht von ihrer Zeit getrennt werden. Die Bibelzitate am unteren Rand des Bildes, die auf Luthers Übersetzung beruhen, sind ein Anhaltspunkt dafür. Krieg und Grausamkeiten fegten über Europa. Die Stadt Nürnberg nahm 1526 die Reformation an. (Dürer selbst war ein überzeugter Anhänger von Luthers Ideen). Die biblischen Texte beginnen mit den Worten aus dem Buch der Offenbarung:

"Alle weltliche regenten in disen ferlichen zeitten Nemen billich acht, das sie nit fur das gottlich wort menschliche verfuerung annemen Dann Gott wil nit Zu seinem wort gethon, noch dannen genomen haben. Darauf horent dise trefflich vier menner Petrum Johannem Paulum vnd Marcum Ire warnun[g]".(22, 18) 

     Dann kommt der zweite Brief des Petrus: "Petrus spricht in seiner andern Epistel Im andern Capittel also / Es waren aber auch falsche prophetten vnter dem volck, Wie auch vnter euch sein werden falsche lerer, die neben einfuren werden verderbliche seckten Vnnd / verleucken den herren der sie erkaufft hat Vnnd werden vber sich furen ein schnel verdamnus Vnd vile werden nachuolgenn Irem verderben, Durch / welche wird der weg der warhait verlestert werden, Vnd durch geitz mit erdichten wortten, werden sie an euch hantieren, Vber welche das vrtail von / lannger here nit saumig ist Vnnd ir verdamnuss schlefft nicht." (2. Petr. 2, 1-3)

    Weitere Zitate: 1Joh 4, 1-3., 2Tim 3, 1-7 (!!), Mk 12, 38-40 (!!) Wer den Text aufmerksam liest, dem fällt die Formulierung "das gottlich wort" auf, oder sein Gegenteil, die "falschen Propheten". Das ist das eigentliche Wesen der Reformation: das Wort Gottes. Und wer könnte für Dürer wichtiger sein als die vier Männer, die die Botschaft Gottes überbringen.

     Die Inschriften stammen von Neudörffer, einem Kalligraphen aus Nürnberg. Er war auch Dürers erster Biograph, und er bemerkte, dass es Dürers Ziel war, Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Temperamenten darzustellen. Es ist nicht notwendig, die Kategorien der Psychologie hier aufzulisten. Viel wichtiger ist die Spannung, die sich in den Gesichtern widerspiegelt. Johannes liest die Anfangszeilen seines eigenen Evangeliums. Peter hört gebrochen, mit gekrümmtem Rücken zu. Markus, der die größere Macht anerkennt, schaut aufgeregt zu Paulus, in dessen Augen wir sehen können: all das, was die Propheten vorausgesagt haben, wird wahr werden. Haltet fest an der Heiligen Schrift und den Geboten, sagt er.

     Der Schlüssel, das Schwert und die kleine Papyrusrolle sind so unbedeutend im Vergleich zu all dem, was in den Seelen wütet, was durch die sich umklammernden Hände und den Kontrast der Farben noch mehr betont wird. Das feuerrote, verfallende Gewand des Johannes drückt Leidenschaft aus, während die kühlere Farbe bei Paulus den Kontrapunkt bildet: Die gebrochenen Linien der Falten lassen die Spannung des Willens erahnen. Diese irdischen Menschen sind ratlos, ängstlich vor der Zukunft, suchen nach Gewißheit zwischen Anfang und Ende.

     Ich bin allein hierher in die verlassene Barer Straße gekommen. Ich bin weit weg vom Adventsmarkt, wo meine Frau sicher auf mich wartet. Wir haben beide unsere Zeit gut verbracht.